Soziales Bungee Jumping Slum Tourismus ist sehr umstritten boomt aber Das reale Leben sehen
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Soziales Bungee-Jumping

Slum-Tourismus ist sehr umstritten, boomt aber: Das reale Leben sehen

Haupteinnahme-Quelle für die rund eine Million Slum-Bewohner von Dharivis: Recyling von Müll.

München. Die Sehnsucht der Reisenden nach dem "authentischen Leben" an ihrem Urlaubsort hat in jüngster Zeit einen neuen Trend heraufbeschworen: Slum-Tourismus. Slum-Touren in Johannesburg, Rio, Mumbai oder anderen Städten werden immer beliebter. Dieser Trend ist umstritten, er kann jedoch auch Positives bewirken. An der ITB 2015 wurde der Anbieter von Slum-Touren in Mumbai, Reality Tours & Travel, mit einem Preis für sozialverträglichen Tourismus ausgezeichnet.

"Passt auf die Leitungen auf", warnt Balaji. "Die hängen manchmal recht niedrig." Dann betreten wir den kaum mehr als schulterbreiten Gang. Ein Drittel nimmt eine Abwasserrinne in Anspruch. Der Rest ist mit wackligen Steinplatten bedeckt. Es ist düster, von oben dringt kaum Tageslicht in den engen Schacht. Links und rechts fällt der Blick in winzige Räume, nicht grösser als zehn Quadratmeter. Frauen sitzen auf dem Boden und schneiden Gemüse, zwischen ihnen krabbeln Babys.

Zweieinhalb Stunden führt Balaji die fünfköpfige Gruppe aus Kanada, Singapur und Deutschland durch Dharavi, den wohl grössten Slum Asiens. Eingepfercht zwischen zwei Bahnlinien lebt hier rund eine Million Menschen auf einer Fläche von knapp zwei Quadratkilometern. Das entspricht ungefähr 500 Fussballfeldern, auf denen jeweils 2.000 Menschen wohnen und arbeiten. Damit zählt der Slum zu den am dichtest besiedelten Flächen der Erde.

Doch Dharavi ist auch ein wichtiges Wirtschaftszentrum mit mehr als 15.000 Klein-Unternehmen, die jährlich über 665 Millionen Dollar erwirtschaften. Es gibt Töpfereien, Stickereien, Ledernähereien, Bäckereien und vor allem Recyling. Über 100 Tonnen Müll werden in Mumbai täglich produziert, 80 Prozent landen in Dharavi und werden hier zur Weiterverwendung aufbereitet.

Slum-Touren für Touristen sind sehr umstritten, wachsen aber nicht nur in Indien.

Touristenführer Balaji ist hier aufgewachsen und lebt noch immer mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn hier. Eigentlich arbeitet der 25jährige als Blumenbinder. Doch nebenbei führt er für Reality Tours & Travel Touristen durch Dharavi.

Kurz eintauchen,
aber nicht berühren

Auf der Tourismusmesse ITB wurde der Tour-Anbieter im Wettbewerb Sozialverträglicher Tourismus mit dem Preis "TO DO! 2014" ausgezeichnet. "Reality Tours hat Routen ausgearbeitet, die für den Gast hochinformativ sind", heisst es in der Begründung. "Die Bewohner fühlen sich und ihr Dharavi durch die Gäste aufgewertet."

80 Prozent der Gewinne von Reality Tours & Travel und seiner Wohlfahrtsorganisation Reality Gives fliessen zurück in den Slum. Angeboten werden Gesundheitsprogramme, Englisch- und Computerkurse, Bildungsprogramme sowie Sport. Inzwischen arbeiten 15 Guides fest oder in Teilzeit für Reality Tours und von April 2013 bis März 2014 nahmen 15.000 Besucher aus aller Welt an den Rundgängen teil.

Doch Slum-Tourismus ist umstritten. Das zeigte auch das Gespräch des Spezial-Reiseveranstalter Studiosus an der ITB zum Thema "Tourismus in Slums: Geschäft mit der Armut oder Hilfe zur Selbsthilfe?". Malte Steinbrink vom Institut für Geographie an der Universität Osnabrück hatte das Eindringen von Touristen in die Armutsviertel sogar als "soziales Bungee-Jumping" bezeichnet: Man schaut sich das Elend kurz an, ohne selbst hart aufzuprallen. Doch inzwischen boomt der Markt. Weltweit nehmen jährlich bereits mehr als eine Million Menschen an solchen Touren teil und jährlich kommen neue Städte dazu. Begonnen hat der Armutstourismus in den neunziger Jahren in Südafrika, dann folgten Touren durch die Favelas in Rio de Janeiro.

Einblicke in das reale Leben der Slum-Bewohner werten die Menschen und Lebensbedingungen vor Ort auch auf.

Slums als Lokalkolorit
vermarktet

"Es gibt sehr starke moralische Zweifel und darauf müssen die Anbieter reagieren", sagt der Slum-Forscher. Dafür gebe es vor allem drei Strategien. Man könne die Touren als Kulturtrip verkaufen, auf denen man das echte Leben der Bewohner kennenlernt. Man könne es als Hilfsprojekt für die Slum-Bewohner aufziehen oder man könne es als Mittel sehen, mit dem man das oftmals falsche mediale Bild von den Armutsvierteln korrigieren kann. Dabei sieht Steinbrink vor allem den Trend zur Kulturalisierung sehr kritisch. "Das ist eine Entpolitisierung von Armut", so der Wissenschaftler. "Der Slum ist nicht mehr als Ausdruck globaler Ungerechtigkeit, sondern wird als authentisches Lokalkolorit verkauft."

Antje Monshausen, Leiterin der Arbeitsstelle Tourism Watch, sieht vor allem die Gefahr, dass mit der wachsenden Popularität von Slum-Touren auch immer mehr Massenveranstalter in die Viertel der Ärmsten einfallen. Es brauche daher auch einen Schutzes der Bewohner. Bei Reality Tours gibt es deshalb klare Regeln. Die maximale Gruppengrösse liegt bei fünf Personen, die Touristen müssen angemessen gekleidet sein und es herrscht ein striktes Fotografier-Verbot.

Eine sehr interessante Entwicklung sei es, wie die Stadtpolitik inzwischen mit den Angeboten umgeht, so Slum-Forscher Steinbrink. Erst sei man dagegen gewesen, den Touristen die Schattenseiten der Stadt zu zeigen. Doch inzwischen versuche die Politik – zum Beispiel in Rio – sogar selbst aktiv zu werden und das "Favela-Image anschlussfähig zum Festival-Image der Stadt zu machen".

Inzwischen arbeiten 15 Guides fest oder in Teilzeit für Reality Tours.

Sehen und lernen

Auch Reiseveranstalter wie Studiosus schicken ihre Gäste in Mumbai mit Reality Tours nach Dharavi. "Die Innenstädte werden doch weltweit immer ähnlicher und damit auch uninteressanter", beobachtet Peter Strub, Mitglied der Geschäftsleitung von Studiosus. "Unsere Gäste wollen sehen, wie man in Indien wirklich lebt und sie wollen wissen, wie Menschen daran arbeiten, um der Armut zu entkommen."

Das betonte auch Asim Abid Shaikh, Operations Manager bei Reality Tours &Travel. "Wir möchten den Touristen zeigen, was die Menschen hier auf die Beine gestellt haben", erklärte er. "Ja, es gibt Armut, es gibt aber auch einen starken Gemeinschaftssinn." Und in der Tat, die Tour durch Dharavi ist nicht nur beklemmend, sondern auch äusserst lehrreich.

Auch Hotels könnten daher davon profitieren, wenn sie ihre Gäste auf Touren von verantwortungsvollen Anbietern aufmerksam machen – selbst wenn das Erlebnis so gar nicht mit ihrer Luxuswelt zusammenpasst. Denn der Wunsch nach authentischen Reise-Erfahrungen steigt. Reality Tours legt seine Prospekte beispielsweise auch in Hotels in Mumbai aus, um Gäste auf die Führungen aufmerksam zu machen. "Offizielle Partnerschaften haben wir aber nicht," sagt Nick Hamilton, Marketing Director von Reality Tours, "und wir bezahlen auch keine Kommissionen für Hotels, die uns buchen."

Wenn Hotels ihren Gästen solche Trend-Touren nicht anbieten, werden Anbieter wie Airbnb es garantiert irgendwann tun. Denn zu deren Geschäftsmodell mit Lokalkolorit passt es perfekt. / Bärbel Schwertfeger

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