Corona Zukunft Die Welt nach dem Virus
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Corona & Zukunft: Die Welt nach dem Virus

Frankfurt/Main. Zukunftsforscher sind sich sicher: Nach dem Abklingen der Corona-Krise wird sich die Welt zwar erholen, aber sehr vieles nicht mehr so sein wie es war. Das muss per se nicht schlecht sein. Den Tourismus wird diese neue Welt jedoch vor weitere grosse Herausforderungen stellen. Eine Zusammenfassung verschiedener Thesen, mit einem Fokus auf den Folgen für Hotels.

Das 1998 in Deutschland gegründete Zukunftsinstitut mit Niederlassungen in Frankfurt am Main und Wien ist ein internationaler Think Tank für Trend- und Zukunftsforschung. In diesem Bereich zählt es zu den einflussreichsten Forschungs- und Beratungsteams Europas. Einer seiner Mitarbeiter, Matthias Horx, veröffentlichte in der vergangenen Woche auf seiner Homepage die Kolumne 48 mit dem Titel "Die Welt nach Corona – Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise 'vorbei' ist."

Das Zukunftsinstitut selbst stellte ein Whitepaper zum Thema: "Der Corona-Effekt: 4 Zukunftsszenarien" online. Wir haben aus beiden Werken die wichtigsten Thesen für die Hotel-Branche zusammengefasst.

Matthias Horx: Nach der Schockstarre kommt vielleicht Erleichterung.Foto: Klaus Vyhnalek

Aus Kolumne 48:

Die Re-Gnose: Unsere Welt im Herbst 2020. Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Strassencafe in einer Grossstadt. Es ist warm, und auf der Strasse bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee wieder wie früher? Wie damals vor Corona? Oder sogar besser?

Worüber werden wir uns rückblickend wundern? Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre führten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte.

Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst…

Auftrieb für Tele- und Videokonferenzen

Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten, stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschliesslich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist…

Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge. Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult.

Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivia-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert.

Kann sich jemand noch an den Political Correctness-Streit erinnern? Die unendlich vielen Kulturkriege um … ja um was ging da eigentlich? Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, überflüssig machen…

Ende des grossen Technik-Hypes

Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.

Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die grosse digitale Erlösung. Der grosse Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?...

Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie "Zusammenbruch" tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es einen "schwarzen April" gab, einen tiefen Konjunktur-Einbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl viele Unternehmen Pleite gingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.

Die Demontage der globalen Just-in-Time-Produktion

Heute im Herbst gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen.

Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.

Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte? ...

Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder Parks oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang…

Aus für Populismus und Fake News

Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.

Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwortlichkeiten bekam in dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität. Gerade weil sie "autoritär" handeln musste, schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche. Auch die Wissenschaft hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt. Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars, aber auch "futuristische" Philosophen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, die vorher eher am Rande der polarisierten Debatten standen, bekamen wieder Stimme und Gewicht.

Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden...

Gute Storys werden bleiben

Tiefe Krisen weisen obendrein auf ein weiteres Grundprinzip des Wandels hin: Die Trend-Gegentrend-Synthese. Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der Disruption des Megatrends Konnektivität. Politisch-ökonomisch wird dieses Phänomen auch "Globalisierung" genannt. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch Grenzschliessungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation der Konnektome, die unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. Es kommt zu einem Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme.

Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schliessung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. Diese Umformung ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Das macht einen zunächst schwindelig, aber dann erweist es seinen inneren Sinn: Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet.

Dieser Prozess der Komplexierung – nicht zu verwechseln mit Komplizierung – kann aber auch von Menschen bewusst gestaltet werden. Diejenigen, die das können, die die Sprache der kommenden Komplexität sprechen, werden die Führer von Morgen sein. Die werdenden Hoffnungsträger. Die kommenden Gretas…

Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der CO2-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.

Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.
Aber sie kann sich neu erfinden.

System reset.
Cool down!
Musik auf den Balkonen!

So geht Zukunft.


Der Corona-Effekt: 4 Zukunftsszenarien

Harry Gatterer, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts: "Als Zukunftsinstitut sind wir der Beobachtung der Zukunft verpflichtet – einer Zukunft, die aktuell ungewisser denn je erscheint. In einer solchen Situation hilft es, sich den möglichen Entwicklungen mittels Szenarien zu nähern. Szenarien skizzieren Möglichkeitsräume, die sich für uns alle im Kontext der Krise auftun: Welche Entwicklungen können wir erwarten? Wie wird das Virus unsere Kulturtechniken, Werte und Konsummuster, unser kollektives Mindset verändern?"

So ungewiss der konkrete Verlauf der Krise aktuell erscheint: Mit den Methoden und Werkzeugen der Trend- und Zukunftsforschung lassen sich die möglichen Folgen der Pandemie einschätzen. Das Zukunftsinstitut hat vier Szenarien entwickelt, die beschreiben wie unsere Zukunft nach der Pandemie mittelfristig aussehen könnte:

Szenario 1: Die totale Isolation
Am Anfang war der Shutdown – und der Shutdown ist zur Normalität geworden.

Szenario 2: System-Crash
Das Virus hat die Welt ins Taumeln gebracht, und sie kommt nicht mehr heraus.

Szenario 3: Neo-Tribes
Nach der Corona-Krise hat sich die globalisierte Gesellschaft wieder stärker zurück zu lokalen Strukturen entwickelt.

Szenario 4: Adaption
Die Welt lernt und geht gestärkt aus der Krise hervor.


Keine Events und De-Touristification

Szenario 3 befasst sich dabei auch intensiv mit möglichen Veränderungen auf den Tourismus. So heisst es dort:

- Die Angst vor Ansteckung hat einen Rückzug ins Private und die Wiederentdeckung der Häuslichkeit befeuert. Grossveranstaltungen gibt es praktisch nicht mehr, dafür wird viel gestreamt, denn via Virtual Reality kann man an Mega-Events teilnehmen, ohne dabei das sichere Zuhause verlassen zu müssen.

- Statt öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, wird immer mehr auf Fahrrad oder E-Roller umgestiegen. Fernreisen haben stark an Attraktivität verloren – im Gegensatz zu umliegenden Regionen oder Nachbarländern. Die massive De-Touristification führt dazu, dass sich ganze Landschaften und ehemalige Tourismus-Hotspots vom Overtourism erholen. Reisen ist nicht mehr selbstverständlich, sondern wird – wieder – als etwas Besonderes gesehen, auch weil es in Post-Corona-Zeiten eine Menge Vorsichtsmassnahmen und viel Planung erfordert. Tourismus wird noch mehr zum Resonanz-Tourismus.

- Die Coronakrise hat sich als überraschender Treiber von New-Work-Trends hin zu mehr Flexicurity erwiesen: Dadurch, dass Flexibilität am Arbeitsplatz aus der Not heraus breitflächig ermöglicht wurde, haben sich Arbeitskulturen dauerhaft verändert. Home Office ist nun essenzieller Bestandteil jeder Unternehmenskultur, internationale Unternehmen vereinbaren Meetings in VR-Konferenzen, Verträge werden via Blockchain geschlossen. Digital-Health-Anwendungen errechnen schon im Vorhinein das mögliche Risiko persönlicher Geschäftsmeetings – von denen aber ohnehin meist abgeraten wird. / red

 

Diese Links führen zu den vollständigen Texten:

www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/
www.zukunftsinstitut.de/fileadmin/user_upload/Whitepaper-Der-Corona-Effekt-Zukunftsinstitut.pdf

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