Hamburg/Peking. Die Weltgeschichte schlug letzten Oktober ein neues Kapitel auf, ohne dass die meisten Beobachter in Kontinentaleuropa Notiz davon genommen hätten. Am selben Tag, als die unseligen Jamaika-Verhandlungen für eine neue deutsche Regierung in Berlin ihren Anfang nahmen, deklarierte Chinas Generalsekretär Xi Jinping beim 19. Parteikongress der Kommunistischen Partei Chinas in Peking den Beginn einer "neuen Ära". Zum ersten Mal seit den Zeiten des Vorsitzenden Mao formulierte China offen seine Absicht, eine globale Führungsrolle einzunehmen und bot dem Rest der Welt sein ökonomisches und politisches System an.
Prof. Wolfgang Arlt, Autor dieser Kolumne und unser redaktioneller Experte für China, hinterleuchtet chinesisches Reiseverhalten heute. Prof. Arlt ist der Gründer von COTRI, dem China Outbound Tourism Research Institut mit Sitz in Hamburg, und einer der 500 anerkannten weltweit führenden Tourismus-Experten der UNWTO.
Die Sparsamkeit, die sich während des Kongresses im Verzicht auf Blumen-Dekoration, Geschenke oder Limousinen-Transfers für Delegierte zeigte, konnte nicht über die Verschiebung der globalen Power hinwegtäuschen, die durch die wenig überzeugenden Auftritte demokratischer Regierungen in vielen westlichen Länder gestützt wurde.
"Gelassen beobachten; unsere Position sichern; Geschäfte gelassen meistern; unsere Leistungsfähigkeit verbergen und den rechten Augenblick abpassen; gut in leisen Tönen sein; und niemals die Führung beanspruchen". Deng Xiaopings berühmtes Rezept der 24 Charaktere, das für Chinas Aussenpolitik seit 1990 prägend war, hat ausgedient. Der Wettbewerb Washington-Konsens versus China-Konsens ist offiziell eröffnet, bei dem China, so Xi, die Möglichkeit einer "schnelleren Entwicklung ohne den Verlust seiner Unabhängigkeit" mitbringt.
Für Chinas Outbound-Tourismus bedeutet dieser Schritt zu einer "zentralen Bühne" ein gutes Zeichen für eine andauernde Sicherheit vor Anti-Korruptions- und Anti-Hedonismus-Kampagnen. Auch dürfte die Regierung weiterhin Auslandsreisen als ein Soft-Power-Tool im Rahmen der aussenpolitischen "One Belt One Road"-Strategie insbesondere gegenüber dem restlichen Asien, Europa und Afrika unterstützen. Man erinnere sich an den Jahresanfang 2017, als Xi Jinping in seiner Funktion als Präsident Chinas beim Davos World Economic Forum eine Rede hielt, in der er für die folgenden fünf Jahre 700 Millionen Outbound-Reisen prognostizierte. Diese Zahl dürfte, soweit keine Black Swan-Events eintreten, zwischen 2017 und 2021 sogar 800 Millionen überschreiten.
China eindeutig der Outbound-Markt Nr. 1
Überdies hat das China Outbound Tourism Research Institute im Januar 2017 eine Prognose veröffentlicht, die eine Gesamtzahl der chinesischen Auslandsreisen in 2017 von 145 Millionen voraussagte. Nach den derzeit vorliegenden Daten scheinen diese Angaben in der Tat zuzutreffen. Sie setzen sich aus 68 Millionen Ankünften in Greater China und 77 Millionen Ankünften im Rest der Welt zusammen. Insgesamt liegt die jährliche Wachstumsrate bei 6%, das ist die zweitniedrigste Zahl seit Beginn des chinesischen Outbound Tourismus, die aber immerhin noch über den 3% vom vergangenen Jahr liegt.
Für 2018 prognostiziert COTRI, dass insgesamt 154 Millionen Chinesen die Landesgrenzen überschreiten werden, was wiederum einem jährlichen Wachstum von 6% entspricht, der auf einem Wachstum von 1% für Greater China und 10% für den Rest der Welt beruht. Dementsprechend bedeutet dies für 2018, dass 86 Millionen Reisen und damit 56% aller Outbound-Reisen in Destinationen jenseits von Grosschina erfolgen werden.
Dies ist eine signifikante Entwicklung, wenn man bedenkt, dass noch 2010 zwei Drittel aller Reisen innerhalb von Grosschina erfolgten und 2016 erstmals mehr chinesische Outbound-Reisen ausserhalb von Grosschina gemacht wurden als innerhalb. Damit hat China zweifellos die Spitzenposition als grösster internationaler Markt für Outbound Tourismus inne, selbst wenn man nur die Zahlen für Reisen ausserhalb von Greater China in Betracht zieht. Die beiden nächstgrössten internationalen Reise-Nationen, USA und Deutschland, weisen ca. 75 bzw. 55 Millionen Reisende auf.
Drei Trends für 2018
Am 16. Februar 2018 beginnt in China das Hund-Yang-Erde-Jahr. Hundejahre sollen voller Veränderungen und neuer Entwicklungen sein. Dies unterstützt Yang, doch Erde mildert die Stärke der Veränderungen ab. Für viele mag dies nicht vielversprechend klingen, auch angesichts der Unsicherheiten und Ängste, die die Welt im laufenden Hahn-Yin-Feuer-Jahr geprägt haben. Was übrigens bezüglich des chinesischen Reiseverhaltens während der chinesischen Neujahrsferien zu erwarten ist, wird Gegenstand eines Webinars am 24. bis 26. Januar sein.
Die Prognose von COTRI beruht jedenfalls nicht auf Astrologie, sondern auf einer gründlichen Analyse des Marktes und auf drei Grund-Annahmen für das laufende Jahr:
1. Die chinesische Regierung unterstützt weiterhin die Reisetätigkeit chinesischer Staatsangehöriger im Ausland – privat oder geschäftlich. Obwohl Festland-Chinesen beträchtliche Mengen harter Währung für häufig frivole und unnötige Aktivitäten – von Helikopter-Flügen bis zum Shopping – ausgegeben haben, wird Outbound Tourismus auch weiterhin nicht als "hedonistisches" Verhalten kritisiert werden.
Intern wird der Outbound Tourismus als Möglichkeit für die oberen zehn Prozent der Gesellschaft betrachtet, ein gewisses Mass an Freiheit und "Kauflust" auszuleben, ja sogar als Vehikel, um Geld ausser Landes zu bringen – für den Fall, dass ... Offiziell spielen die Outbound-Reisenden eine Rolle als Botschafter eines freundlichen und hilfsbereiten China, in Übereinstimmung mit Chinas Hinwendung zu seiner "Führungsrolle". Die Regierung jedenfalls will weiterhin dieses Soft-Power-Tool in beide Richtungen verwenden, indem sie günstige Bedingungen für Verbündete wie die Philippinen, Türkei oder Tunesien schafft, aber auch als Mittel zur Bestrafung für Regierungen wie die von Südkorea und Taiwan, sobald China mit deren Politik nicht einverstanden ist.
2. Chinesische Staatsbürger hören nicht auf, international zu reisen – selbst wenn die Zahlen terroristischer Anschläge oder Vorfälle schweren Diebstahls wachsen oder sie von der einheimischen Bevölkerung als Sündenböcke für Overtourism angesehen werden. Wenn eine Destination Opfer negativer Schlagzeilen wird, werden sie einfach ihre Reisepläne ändern und einen anderen Ort auf ihrer langen Wunschliste von Plätzen, die sie gerne sehen wollen, besuchen.
Hongkong und Macau indessen fallen der wachsenden Reife und Raffinesse der chinesischen Reisenden zum Opfer, die es immer weniger attraktiv – oder notwendig – finden, zwar die Grenze zu überschreiten, sich dabei aber in einer Destination aufzuhalten, die letztendlich von der Regierung von Festlandchina kontrolliert wird.
3. Die Trends zu Segmentierung, Kunden-Orientierung und Individualisierung des chinesischen Outbound-Reisemarktes sind irreversibel. Verschiedene Formen von semi-individuellem, modularem oder vollständig selbst organisiertem Reisen, das auch fragmentierter Produkte bedarf, werden 2018 und danach fortbestehen und eine wachsende Rolle spielen, besonders im eher vermögenden Teil des Gesamtmarktes.
Segmentierung wird darüber hinaus bedeuten, dass sich die demographischen Zielgruppen zu einer ausgewogeneren Verteilung von Reisenden auf alle Altersgruppen hin entwickeln. Überdies besuchen die Reisenden mehr und mehr unterschiedliche Destinationen und üben eine wachsende Vielfalt an Aktivitäten aus. Gemäss dieser Matrix werden auch die Ausgaben wachsen. Dabei wird ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis eine höhere Bedeutung haben als Prestige-Konsum.