WTM London Aktueller Boom verschleiert das Brexit Desaster
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WTM London: Aktueller Boom verschleiert das Brexit-Desaster

London. Im Jahr 3 nach der legendären Brexit-Abstimmung die EU zu verlassen, stand dem "World Travel Mart" in London einmal mehr ins Gesicht geschrieben. Sorgenvolle Mienen weichen verzweifelten Blicken und Verärgerung über die anhaltenden Unsicherheiten in der Wirtschaft. Tourismus und Hotellerie werden bei einem harten Brexit-Deal stark betroffen. Insider deuten an: Im Hintergrund sind noch nicht einmal die groben Rahmenbedingungen und Massnahmen geklärt.

Im Unterschied zum vergangenen Jahr stand erstmals Zahlenmaterial zur Verfügung, das schon konkrete Buchungen der Nach-Brexit-Zeit enthält. Die Daten lieferte am WTM Insight Forward Keys aus Spanien, die täglich tausende von Flugsegmenten sowie die Buchungen britischer Reiseveranstalter sammelt und analysiert. Vizepräsident Olivier Ponti zeigte, wie wichtig der "zweite" Blick ist. Denn auf den ersten Blick sind die Briten unbeeindruckt: Im Sommer 2019 wuchsen die Reisen in den EU-Raum um 5,7%. Aufs Komma genau der gleiche Wert wie in der Analyse vor einem Jahr für den Sommer 2018. Doch die Vergleichszahl macht den Unterschied: Während 2018 zu diesem Zeitpunkt "nur" plus 4,1% andere globale Reiseziele gebucht hatten, liegt bei Briten die restliche Welt derzeit mit 28,5% im Plus.

Mehrere Touristiker und Forscher waren sich einig, dass mit Beginn der jüngsten Brexit-Verhandlungsphase britische Urlaubsreisende spürbar verunsichert sind Denn im bisherigen Zahlenberg stellen absolute Frühbucher bei All-Inclusive-Touristen den Löwenanteil. Diese verlassen sich darauf, dass der Reiseveranstalter sämtliche Probleme ins Reine bringen kann. Sie vertrauen also auf die absolute Sicherheit.

Individuelle Reisende, die meist später buchen, werden angesichts der Möglichkeit eines harten Brexits zurückhaltend. Denn in der Theorie wären ab April 2019 alle Abkommen hinfällig. Damit wären Briten bei Europa-Reisen so lange nicht visabefreit, wie es keine neuen Abkommen mit jedem einzelnen Staat gibt. Umgekehrt ist ebenso wenig klar, ob Reisende nach Grossbritannien ein Visum brauchen.

Flugverkehr bald abgeschnitten?

Darüber hinaus wäre Grossbritannien nicht mehr Teil europäischer Open Sky-Abkommen und die meisten Flugpläne wären ab April ohne rechtliche Basis, was die Fliegerei de facto zum Erliegen bringen könnte. Dann dürften British Airways nicht mehr in der EU landen. Und umgekehrt wäre die Frage, ob Lufthansa oder Air France und andere noch in Grossbritannien landen dürfen…

"Reine Theorie. Denn konkret ist auf beiden Seiten klar, dass alle substanziellen Bereiche nach einem Scheitern der Verhandlungen mit raschen Unterschriften fortgeführt werden". Das steht für Österreichs Handelsdelegierten Christian Kesberg in London ausser Frage. Er bleibt Optimist: "Auslandsreisen sind für Briten fast immer Flugreisen. Den für den Tourismus relevanten Bevölkerungsschichten geht es derzeit wirtschaftlich sehr gut".

Einen Vernunft-getriebenen Umgang mit den aktuellen Problemen und vor allem nahende Unterschriften sehen andere top-informierte Insider überhaupt nicht. An einem geschlossenen Event in London diese Woche sprachen mit den Regierungsverhandlungen vertraute Insider, die hospitalityInside.com namentlich nicht zitieren darf, nur noch von Vorbereitungen für den "best case" und den "worst case". Im geschlossenen Kreis dieses Events wichen sorgenvolle Mienen inzwischen der Verzweiflung, weil im Hintergrund zu viel noch überhaupt nicht geregelt sei – auch nicht im Wirtschaftssegment Tourismus. Stattdessen sorgen sich die Politiker eher um das negative Image des Landes: Sie möchten nicht von "worst cases" sprachen, lieber von "maximum change".

Sollten die Briten am Reisen ins Ausland gehindert werden, so könnte der Inbound-Tourismus ab April 2019 massiv zunehmen, spekulierten Hotel-Investoren in London gegenüber hospitalityInside.com. Deshalb ist die Schnäppchen-Jagd an dieser Stelle gerade gross – allen Widrigkeiten zum Trotz.

20.000 Pfund Eintritt für jeden ausländischen Mitarbeiter?

Neben solchen "Kleinigkeiten" wie ungeregelte Flug-Abkommen oder auch Genehmigungen für Frachtschiffe oder eine noch zu errichtende physische Grenze mit allen Kontrollen zwischen Irland und Nordirland ist natürlich die Arbeitserlaubnis für Nicht-Briten ein beherrschendes Thema. Der finale Brexit-Austritt erfolgt nach jetzigem Stand formell am 29. März 2019. Würde man allen EU-Bürgern zum 1. April 2019 die Arbeitserlaubnis in Grossbritannien entziehen, brächen Bereiche wie die Hotellerie/Gastronomie oder das Gesundheitswesen zusammen. Dass viele Konzepte nicht auf den Tisch kommen, sei einfach dem "Verhandlungstanz" geschuldet, so Kesberg am WTM. Das aber ist zu einfach gedacht, denn Premierministerin Theresa May drängt jetzt massiv auf eine Einigung vor Weihnachten, um im Januar das Parlament über den Brexit abstimmen zu lassen.

Von den Insidern am besagten Event war zu hören, dass EU-Arbeitskräfte bis 2020 nach bisherigem Muster in Grossbritannien weiterarbeiten dürfen. Für die Zeit danach sollen die Unternehmen, die Mitarbeiter ins Land holen bzw. dorthin entsenden möchten, pro Kopf 20.000 Pfund zahlen. Und das gelte für EU-Arbeitskräfte wie auch für Nicht-EU-Arbeitskräfte.

Keine oder komplizierte Flüge haben Ketten-Wirkung

Zu drastischen Analysen kommt Datenforscher Euromonitor vor allem in seinen "No-Deal-Szenarien". Die Chance, dass es im Endeffekt zu keiner Vereinbarung komme, liegt nach Analysten-Einschätzung bei rund 40%. In Grossbritannien wäre der ausgehende Reiseverkehr vom Brexit stärker betroffen, da generell dessen Umsätze die Reise-Einnahmen im Land im Verhältnis 2:1 übersteigen. Zwar wird laut Euromonitor-Berechnungen der Reiseverkehr aus Grossbritannien heraus auch in den nächsten Jahren weiter zulegen, bei den Ausgaben zeigt das No Deal-Szenario jedoch für die nächsten zwei Jahre Stagnation.

Konkret geht es bei den drei durchgespielten Szenarien um ein Volumen von knapp 10 Milliarden Euro, das den Engländern für Auslandsreisen etwa zur Verfügung stehen würde. Indirekt würde aber auch Grossbritanniens Incoming leiden, zeigt der Euromonitor am Beispiel Spaniens auf: Grossbritannien trägt dort 21% zu den touristischen Einnahmen bei. Bei einem No Deal-Brexit- könnten dort 2019 rund 675 Millionen Euro fehlen. Dies würde – in der Folgewirkung – wieder die Auslandsausgaben der Spanier in England um knapp 60 Millionen Euro reduzieren.

Höhere Steuern, Inflation und BIP-Rückgang

Caroline Bemner, Leiterin Reise- und Tourismus-Forschung von Euromonitor International, gewährt hospitalityInside.com einen exklusiven Einblick, nach welchen Kriterien die Wirtschaftsforscher des Teams ihre globalen Zahlen entwickeln. So werde die durchschnittliche Erhöhung der Zölle für britische Produkte bei fast fünf Prozentpunkten liegen. Autos würden um 10%, Lebensmittel um bis zu 20% teurer. Weitere Effekte würden zu einem anhaltenden Rückgang der Produktivität in Grossbritannien und der Einkommen führen.
Der für die touristische Entwicklung wichtigste Teilbereich: "Das Britische Pfund wertet gegenüber dem US-Dollar und dem Euro um weitere 10 bis 11% ab, was zu einem weiteren Anstieg der Import-Preise und einer Inflation von über 3% führt". Der harte Brexit würde bis 2023 das BIP um 1% pro Jahr negativ beeinflussen.

Es ist umgekehrt kein Geheimnis, dass britische Pro Brexit-Analysten diese negativen Auswirkungen nicht nachvollziehen können oder wollen. So geht man davon aus, dass ein schwächeres Pfund zwar höhere Reisehürden für Briten bringe, aber Reisen aus Europa nach Grossbritannien ankurbeln sollten. Und in Sachen Open Sky haben die britischen Billigflieger bereits in der Form reagiert, dass sie zumindest ihren innereuropäischen Luftverkehr absichern.

So bezeichnete Easyjet-COO Chris Brown Obe als mit Abstand wichtigste Brexit-Vorsichtsmassnahme des Unternehmens den Aufbau des Easyjet-Ablegers in Wien. "Das war unsere aufwändigste und bedeutendste Vorbereitung auf den Brexit", führte sie auf einer Diskussion aus, bei der kein weiterer Spitzenmanager auf dem Podium ein Beispiel für eigene Pre-Brexit-Massnahmen anzuführen vermochte.

Reisende strafen Destinationen selten ab

Offensichtlich sind gesamtwirtschaftliche Prognosen für derartig komplexe Ausnahme-Situationen trotz zahlloser Computer-Modelle kaum zu erstellen. Einfacher funktioniert das mit dem Reiseverhalten. Die "Halbwertzeit" touristischer Auswirkungen von Terror und Naturkatastrophen wird belegbar immer kürzer. Gleiches gilt für politisches Missfallen, wie an Reisen in die Türkei erkennbar ist.

Relativ nachhaltig hingegen sei die Reaktion britischer Reisender auf den "Fall Skripal, Salisbury" gegenüber Russland ausgefallen, konnte Olivier Ponti belegen. Die Russland-Reisen reduzierten sich danach das ganze Jahr über, mit einer Ausnahme: Während der Fussball-WM waren mehr Engländer denn je in Russland. Pontis Datenmaterial zeigte aber noch ein weiteres Phänomen der Fussball-Verrücktheit: Exakt an den Spieltagen der Three Lions erreichten die Flugreisen absolute Tiefstwerte und – ebenso wie in Deutschland – mit dem Ausscheiden des Teams sprang die Reiselust sofort an.

Noch wirksamer sind, auf längere Zeiträume betrachtet, wohl Wetter-Phänomene. Grossbritanniens Pauschalreise-Veranstalter ins Mittelmeer verzeichneten eine hervorragende Buchungslage, bis die trockene Hitzeperiode im Land einsetzte: Die Buchungen rauschten in den Keller. Daraufhin reduzierten die Veranstalter die Preise vom Spitzenwert 792 Pfund im April bzw. 754 Pfund am 23. Juni auf 735 Pfund zwei Wochen später, als erstmalig die Buchungen um 10% unter dem Vorjahr lagen. Ob die Preise Wirkung zeigten, ob es der Rauswurf aus der Fussball-WM oder eine Wetter-Verschlechterung verursachte, ist offen: Jedenfalls zogen die Buchungen mit Ende Juli wieder an – und die Preise blieben unten. / FF, map

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