Der Forecast Mensch Maschine geben Daten in der Pandemie fokussierte Power
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Der Forecast

Mensch & Maschine geben Daten in der Pandemie fokussierte Power

Historische Daten geben Orientierung, selbstlernende Maschinen rechnen neu. Die Glaskugel wird klarer.Foto: unsplash mitchell gaiser

Augsburg. Bis März 2020 funktionierte es wie mit einer Glaskugel; ihre Prognosen waren bis aufs Prozent genau. Dann fegte Covid-19 den Forecast vom Tisch. Wie sagen Revenue Manager nun Belegung und RevPAR voraus? Ende November, mit den Entscheidungen vieler Länder über das Weihnachts- und Wintergeschäft, weiss jeder Hotelier nur: Die nahe Zukunft bleibt unberechenbar. Alte Daten erscheinen nutzlos. Oder doch nicht? Daten-Analysten, Revenue Manager, Technologie- und KI-Experten zeigen neue Wege zu einem Forecast auf.

Forecasts haben sich über Jahrzehnte hinweg mühsam ihren Stellenwert erarbeitet, dank immer sensiblerer Revenue Managment-Systeme. Die pure Daten-Sammlung konnte immer feiner interpretiert werden, für das einzelne Hotel wie für die Gruppe und das Wettbewerber-Set, aufs Prozent genau und in Echtzeit. Der Forecast gewann eine solche Zuverlässigkeit, dass vor allem Bänker heute hilflos sind: Sie glauben nämlich nur an die vorgelegten Zahlen und nicht an die Erfahrung und Kompetenz der krisenerprobten Hoteliers. Die Bänker sehen den Kontext nicht mehr – und vernichten so im Covid-Jahr 2020 Existenzen: Ist der Hotelier "unfähig", trotz dieser noch nie dagewesenen, unkalkulierbaren Pandemie einen 12-Monats-Forecast vorzulegen, bekommt er halt keinen Kredit.

Hat nun das System versagt oder der Mensch?

Seit 1985 erforscht STR aus London Hospitality-Daten und erstellt Benchmarks, heute ist das Unternehmen ein respektierter Analyse-Partner rund um den Globus. Geschäftsführer Robin Rossmann und Thomas Emanuel, Director of Business Development, beschreiben ihre aktuelle Arbeitsweise im BBQ-Jargon: Sie messen die Temperatur und erstellen daraus "heisse" Kurven. Tiefer denn je schauen sie in ihre Statistiken und vergleichen – der geographischen Virus-Ausbreitung folgend – Städte, Regionen und Segmente, z.B. die Ostsee mit Cornwall oder Sanya Island in China mit den Stränden der USA. "Es ist alles sehr komplex," sagt Emanuel, "und noch komplexer wird es, wenn wir Hotel-Schliessungen mit einbeziehen". In der Geschichte von STR war dies noch nie ein Kriterium gewesen.

Thomas Emanuel: Mit globalen Vergleichen Daten gewinnen.Foto:  Jon Bradley

Der Blickwinkel der Analysten ist durch Covid-19 definitiv sehr viel breiter, weiter, globaler geworden, um überhaupt die Auswirkungen auf einzelne Märkte besser beurteilen zu können. Dazu zählt auch der Blick auf die Airline-Branche: Bleiben die Einreise-Restriktionen hoch und die Flieger am Boden, gibt es auch keinen Gäste-Schub für Hotels… Mit der bitteren Erkenntnis: Die Zukunft der Branche hängt von der Gnade der Politik ab.

Nachfrage nach Flügen ein wichtiger Indikator

STR analysiert nur Daten; es ist keine Beratungsgesellschaft. Der Reise-Analytiker ForwardKeys aus dem spanischen Valencia schon. Seine Daten dienen den Kunden als Handlungsempfehlung. Umso verärgerter ist CEO Olivier Jager darüber, dass die Politik – egal in welchem Land – keinen verlässlichen Mobilitätsrahmen schafft, in dem die Branche wirtschaften kann.

Seit zehn Jahren wertet ForwardKeys täglich über 17 Millionen Flugbuchungen aus und präsentiert den Kunden die Ergebnisse in Berichten oder Dashboards. Das Unternehmen nutzt globale Buchungsquellen wie Amadeus, Sabre, TravelPort, AXESS und TravelSky, um Aussagen über die Ströme der Reisenden treffen zu können, und das in jeder Phase der Reise. Die Analyse der globalen Nachfrage führt automatisch zur Vorhersage von Trends, weil Reisebuchungen teils lange im Voraus getätigt werden.

Jager weiss: In der Post-Covid-Welt, in der die Reisebranche praktisch zum Erliegen gekommen ist, ist ein Rückblick aufs vergangene Jahr einfach Zeitverschwendung. "Wenn es darum geht, die Nachfrage nach internationalen Reisen zu beurteilen, sind die drei hilfreichsten Datenquellen im Moment: Internet-Flugsuchen, da sie ein starker Prädiktor für Buchungen sind; ausgestellte Tickets, weil man weiss, wer wann ankommen wird, und die Sitzplatz-Kapazitäten der Fluggesellschaften, weil diese bei der Planung der Sitze ihr Bestes tun, um diese durch eine Flexibilisierung des Preises zu füllen".

Jager sieht in seinen Statistiken: Überall dort, wo die Reisewarnung aufgehoben wurde, gingen die Buchungen binnen 48 Stunden durch die Decke. Hätten die Regierungen einen Plan, liesse sich Nachfrage steuern – und damit auch die Virus-Bekämpfung, zumindest in Teilen.

Closed for business! Am 7. September sah die Welt so aus: Die roten Zonen waren komplett geschlossen, rosafarbene teilweise. Ein Grafik von Forwardkeys.

 

Weg mit den alten Daten, her mit den Kernfragen

Vassilis Syropoulos arbeitet eng mit Hotel-Unternehmen zusammen, u.a. mit dem Owner Operator Pandox. Als erfahrener Revenue Management-Spezialist mit dem Blick über den Tellerrand hinaus tragen seine Analysen heute sogar zu Standort-Entscheidungen bei. Wie sehen also seine Forecasts für Hotels aus? "Vergessen Sie alle Algorithmen, nichts davon funktioniert!", antwortet er lachend. "Seit April raten wir unseren Kunden dazu, Szenarios zu entwickeln oder Schätzungen abzugeben. Zurückliegende Daten werden wieder relevant, wenn die Lage vorhersehbarer wird". Acht Monate später, im November, ist die Pandemie-Lage aber immer noch nicht überschaubar.

Deshalb rät Syropoulos dazu, mögliche Business-Quellen aus dem regionalen und nationalen Radius sehr genau zu durchleuchten: Woher kommt mein Kerngeschäft, eher aus Business oder Leisure? "Die wichtigste Frage aber ist: Wer ist mein Kunde?" Was ist dessen Geschäft, welche Gründe lassen ihn in meine Stadt/Destination verreisen, weshalb sollte er in meinem Hotel übernachten? Syropoulos empfiehlt, in diesen unklaren Zeiten weiterhin primär auf Belegung zu zielen; ein RevPAR kann allenfalls ein Indikator sein. "All das sind nur Leitplanken, aber sie zeigen, wo man entlang navigieren muss."

Und last but not least: Ist man dem Kunden auf der Spur, dann gilt das Prinzip "Keep it simple!". Flexible Storno-Bedingungen und ein Frühstück aus Kaffee & Croissant anstatt eines grossen Frühstücksbüffets erhöhen das Vertrauen des Kunden ins Hotel oder die Hotelgruppe. Aus IT-Sicht bedeutet das auch: Man reduziere die Datenanalyse auf wenige Kriterien und folge diesen. Weniger ist mehr! 

Vassilis Syropoulos: Die Daten und die Gedanken fokussieren!Foto: privat

Das System der Situation anpassen

"Mehr denn je ist es äusserst wichtig, sicherzustellen, dass das RMS optimal positioniert ist, um angemessene Kontrollen zu unterstützen, insbesondere dort, wo die Nachfrage gering ist; der grösste Performance-Treiber ist die Preisgestaltung", sagt Stephen Hambleton, Sr. Produktmanager bei IdeaS, in einem seiner Blogs, die Hoteliers konkrete Hilfestellungen geben sollen.

Revenue Management Systeme arbeiten regelbasiert oder selbstlernend. Erstere können Volatilität in Krisenzeiten nicht antizipieren. Dann müssen die Systeme manuell angepasst werden. In Corona-Zeiten wird es damit also mühsam, das veränderte Kundenverhalten schnell zu erkennen und neu zu gewichten, sagt Silvia A. Mayer, als Senior Account Executive bei IdeAS zuständig für das Neugeschäft. Seit Beginn der Pandemie beschäftigen sich erfreulicherweise auch kleinere Hotelgruppen stärker mit den vollautomatisierten Systemen und lernen, wie Mensch und Maschine – der Hotelier und das RMS – zusammenarbeiten können.

Eine der ersten Massnahmen eines Revenue Managers ist es im Krisenfall, bei Hotel-Schliessungen z.B. die Zimmer-Verfügbarkeiten mit ihrem exakten Datum im RMS zu entfernen, ebenso wie Events, welche keinen repräsentativen Buchungsverlauf mehr aufzeigen werden – wie z.B. die ITB Berlin, die als virtuelles Format 2021 so gut wie keine physischen Buchungen mehr bringen wird. In einer Krise, in der der Mensch zutiefst verunsichert ist, rechnet das System dann völlig unemotional die Raten neu, auch unter neuen Markt-Bedingungen. "Wenn ich allerdings mehr weiss als das System, muss ich es mit diesen Informationen zusätzlich manuell füttern," so Mayer, "auch mit Randinformationen".

Dazu gehört z.B. die intensivere Betrachtung des Wettbewerber-Sets. Senken die Kollegen die Raten, muss der einzelne Hotelier abwägen. Gegebenenfalls sollte er den Wettbewerber aus seinem System streichen, um sich nicht mit in den Preissumpf ziehen zu lassen, aus dem man mit einsetzender Erholung fast nicht mehr rauskommt. Tiefer eintauchen muss man auch in die Corporate-Buchungen, und Hotel-Bewertungen sollen man auch über die üblichen 90 Tage hinaus im System lassen.

Silvia Mayer: Das System zusätzlich füttern!Foto: IDeaS Revenue Solutions

Viel Feingefühl erfordert es zudem, Krisen zu relativieren – vor allem wenn es wie bei Covid-19 keinerlei Erfahrungswerte über Dauer und Folgen gibt. In dem aktuellen Szenario mit dem schwankenden, kaum kalkulierbaren Weihnachts- und Wintergeschäft aufgrund immer neuer, kurzfristiger Ansagen aus der Politik würde Silvia Mayer bei der Krisen-Gewichtung im System manuell eingreifen und korrigieren.

"Das System optimiert sich mehrfach am Tag, pro Marktsegment, pro Hotel und pro Zimmertyp", erläutert die Expertin, "jedes Hotel ist als unabhängige Einheit anzusehen". Stadthotels beispielsweise tun sich leichter im Umgang mit komplexeren Systemen: Die meisten von ihnen arbeiten seit Jahrzehnten schon mit Yield Management und somit mit permanenten Anpassungen. Resorts agieren eher noch nach altem Muster mit verhältnismässig starren Preisen und Paketen.

IdeaS wurde ursprünglich 1989 von indischen Wissenschaftlern gegründet, und Wissenschaftler gehören auch heute noch zum Team aus einschlägigen IT-Experten und erfahrenen Operation-Managern. "Wir sprechen intern weniger über 'Forecast Accuracy', sondern mehr über 'Forecast Performance', sagt sie mit Blick auf diese Pandemie, die allen neues, sensibles Denken abverlangt.

Volles Vertrauen in die Algorithmen

Ira Vouk setzt gar nicht mehr auf "alte" Systeme und will auch gar nicht manuell eingreifen. Deshalb erschrecken Krisen oder Pandemien sie überhaupt nicht. Denn ihre Algorithmen laufen durch, unabhhängig von Natur- oder menschengemachten Katastrophen.

Die Weissrussin lebt seit ihrem Studium in den USA, stieg in die Hotellerie als Housekeeper ein und blieb irgendwann am Revenue Management hängen. Danach gründete sie ihre eigene Software-Firma. Seit vier Monaten ist sie als Senior Director of Product Management, Data & Analytics bei der Hospitality Revenue Management Software Company Duetto tätig.

Ira Vouk: Jeder Tag ist ein neues Event.Foto: privat

Welchen Weg empfiehlt sie zu einem neuen Forecast? IT pur. KI inklusive ML. Heisst: Ira Vouk setzt voll auf die Internet-Technologie und verfeinert Methoden, die durch Künstliche Intelligenz gesteuert werden und durch Machine Learning automatisch dazu lernen. Bisherige Systeme wiederholen die Abfolgen jedes Jahres, vergleichen, differenzieren und bauen für einen Forecast darauf neu auf. Das ist für die IT-Expertin "old school": "Behandeln Sie jeden Tag im Jahr wie ein separates Event. Daran gewöhnt sich ein Algorithmus, er passt sich an – und ist in keiner Weise mehr an ein bestimmtes Muster aus der Vergangenheit gebunden."

Algorithmen passen sich an, indem sie Einzeldaten oder Daten-Gruppen mit unterschiedlichem Bezug vergleichen. Verändern sich an einzelnen Tagen Muster, verfeinert die Maschine ihre Logik.

All das vollzieht sich natürlich auf der Basis vieler verschiedener Hoteldaten, interner wie externer, z.B. über die Nachfrage bei Airlines, Mietwagen, aber auch Rate Shopping- oder Review-Systeme. "Diese Dinge sind elementar für einen Foreast", sagt die Expertin. Sie arbeitet auf jeden Fall weiter an der Entwicklung von Nachfrage-Mustern. Das ist ihr Zukunftsthema.

Und wie reagiert die Hotellerie auf solche automatisierten und anonymisierten Analysen? Ira Vouk schmunzelt, leicht verzweifelt: Künstliche Intelligenz sieht sie überall im Einsatz, nur in den Revenue Management-Systemen dieser Branche nicht. Sie schätzt diese Zahl, anlehnend an einschlägige Markt-Reports, auf eine sehr niedrige zweistellige Prozentzahl. Auch deshalb hat sie ein praxisnahes Taschenbuch über die Welt der Algorithmen geschrieben: "Revenue Management made easy, for Midscale and Limited-Service Hotels".

Einen weiteren Weg zu einem Forecast in unkalkulierbaren Zeiten zeigte Tom Seddon, ein ehemaliger Hotelier und heute ein KI-Vordenker, beim HospitalityInside Think Tank 2020 auf. In diesem Interview beschreibt er, wann Hoteliers KI nutzen sollten und wie man damit Profit macht. / Maria Pütz-Willems

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21.5.2020

Washington. Künstliche Intelligenz muss nützlich sein. Corona hilft auch hier nach: Das Virus hat auch in diesem Feld den Hype bereits gebrochen und entlarvt Unnützes. Leider ist KI aber eher die grosse Chance für grosse Unternehmen, weniger für kleine, sagt Tom Seddon bedauernd. Er ist heute einer der globalen Vordenker von KI. Nach 22 Jahren in der Hotellerie studierte er Data Sciene. Im Gespräch mit hospitalityInside.com erläutert er, bei welchen Hotel-Aktivitäten Führungskräfte KI heranziehen sollten. Tom Seddon, CEO-in-residence der Software-Firma Foundry in Washington, wird den virtuellen HospitalityInside Think Tank am 23. Juni 2020 als Redner bereichern.

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